Chinas Aufstieg und kooperative Sicherheit in Ostasien: Sind europäische Erfahrungen wichtig?
Der wirtschaftliche und politische Aufstieg Chinas gehört zu den wichtigsten Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts; die Einbindung dieses Landes in eine multilaterale Ordnung zu den wichtigsten Herausforderungen. Dieser Prozess hat Auswirkungen sowohl auf das internationale System als auch auf die regionale Ordnung im Sicherheitskomplex Ostasien. Da es um Macht- und Einflussverschiebungen von erheblicher Bedeutung geht, verläuft dieser Prozess nicht frei von Konflikten. Eine stärker kooperative Gestaltung erscheint aber möglich, denn sie entspricht den Interessenlagen der wichtigsten beteiligten Mächte. Vor diesem Hintergrund erscheint die verstärkte Integration Chinas in eine reformierte internationale Ordnung durchaus realistisch: Erstens hat China bisher von dieser Ordnung profitiert und verlangt eine stärkere Mitgestaltung, aber keinen Wechsel der Ordnungsstrukturen. Zweitens erzwingt die zunehmende Multipolarisierung des internationalen Systems die Integration aufstrebender Mächte, wenn es funktionsfähig bleiben soll. Weitaus weniger günstig stellen sich die Rahmenbedingungen im regionalen Sicherheitskomplex Ostasien dar: (1) In dieser Region besteht keine umfassende, hinreichend institutionalisierte Kooperationsarchitektur des Staatensystems. Während die wirtschaftliche Verflechtung weit vorangeschritten ist, fehlt es insbesondere in der Sicherheitspolitik an kooperativen Strukturen. (2) In der Region existieren zahlreiche ungelöste Sicherheitsprobleme mit hohem Eskalationspotenzial, z.B.Territorialstreitigkeiten, die Nordkorea-Problematik und die Frage nach der politischen Zukunft Taiwans. (3) In Ostasien treffen die Interessen der USA und Chinas direkt aufeinander. Während Washington mit der 2011 proklamierten neuen Pazifik-Strategie seinen Status als Hegemonialmacht verteidigen will, zielt Beijing darauf ab, die Position der USA in der Region sukzessive zurückzudrängen.
Die Sicherheitsprobleme in der politisch und ökonomisch wichtigsten und dynamischsten Weltregion haben sich in den letzten Jahren nochmals verstärkt. China modernisiert sein militärisches Potential und erweitert damit seine Projektionsfähigkeit, ohne dadurch den technologisch führenden USA Konkurrenz machen zu wollen oder zu können. Wohl aber ist es bestrebt, den bisher in der Pazifischen Region (bis unmittelbar vor die Küsten der Volksrepublik) übermächtigen USA militärische Optionen zu verweigern oder diese kostspielig werden zu lassen. Auch die USA (ebenso wie ihre regionalen Verbündeten Japan, Südkorea und die Philippinen) rüsten regional auf, reaktivieren ihre regionalen Allianzen und arbeiten zudem an einer China exkludierenden Freihandelszone. In der gesamten Region führt der Aufstieg Chinas, dessen Geschwindigkeit präzedenzlos ist, zu Fehlperzeptionen, Instabilitäten, Ängsten und Abwehrreaktionen. Durch die Politik des „spoilers“ Nordkorea wird diese Konstellation noch zusätzlich aufgeladen. Konflikte der vergangenen Jahre (z.B. über die Reduzierung der Ausfuhr „seltener Erden“ oder über die zwischen China, Taiwan und Japan strittige Zugehörigkeit der Diaoyu/Senkaku-Inseln) bestärken den Wunsch der meisten ost- und südostasiatischen Nachbarn der Volksrepublik nach einer rückversichernden, balancierenden Rolle der USA. Kurz gefasst: Ostasien befindet sich in einem Zustand des nicht oder ungenügend eingehegten Sicherheitsdilemmas, das durch den zunehmenden Grad ökonomischer Interdependenz offenkundig nicht wirksam reduziert werden kann.
Angesichts dieser Sachlage stellt sich die Forschungsfrage, inwiefern europäische und spezifisch deutsche Erfahrungen mit Strategien von Dialog, Entspannung, Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle als Lösungsansätze für das Sicherheitsdilemma in Ostasien frucht- und nutzbar gemacht werden könnten. Konkret soll untersucht werden, ob und inwieweit die der politischen Führung Chinas zuarbeitenden Think Tanks bereit sind, auf derartige Erfahrungen zurückzugreifen, um Strukturen kooperativer Sicherheit in Ostasien aufzubauen. Dazu wurde 2014 ein zweimonatiger Forschungsaufenthalt in China durchgeführt.
Das Projekt baut zum einen auf zahlreichen Forschungsarbeiten zur deutschen und internationalen Ost- und Entspannungspolitik im Ost-West-Konflikt auf, insbesondere zum Konzept einer gesamteuropäischen Friedensordnung und zur KSZE; zum anderen auf der seit einem Jahrzehnt intensiv betriebenen Beschäftigung mit der veränderten Rolle Chinas in der Region und in der Weltpolitik.
Letzte Änderung: 14. November 2017