Emergent Norms in Corona Protests

Vorstellungswelten der Anti-Corona-Protestszene. Eine digitale politische Ethnografie

Die seit Anfang März 2020 zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ergriffenen Maßnahmen haben zu anhaltenden öffentlichen Protesten geführt. Von einzelnen Protestereignissen kam es rasch zu einer breiteren Mobilisierung diverser Personengruppen, deren Zusammenspiel nicht nur die Beteiligten, sondern auch politische und (sozial-)wissenschaftliche Beobachter:innen als Bewegung begriffen.

Diese brachte Künstler:innen und Intellektuelle, die sich selbst zum linken Spektrum zählen, mit Unternehmer:innen und Selbstständigen, mit Naturheilkundler:innen und Anhängern verschiedener spiritueller Bewegungen sowie mit bekennenden Rechtsradikalen zusammen. Diese Akteurskonstellation entzieht sich gängigen politischen Einordnungen. Und sie wirft die Frage auf, wie die Beteiligten zusammenfinden und wie sie an einer mehr oder weniger geteilten Auffassung ihrer persönlichen Situation und der gesellschaftlichen Lage „arbeiteten“.

Hier setzt das Forschungsprojekt an. Es behandelt die bis heute andauernde Mobilisierung als ein politisches Phänomen, das sich im Anschluss an Charles Tilly als eine soziohistorisch spezifische Form von „contentious politics“ rekonstruieren lässt. Anstatt nach der Einordnung des Geschehens in bestehende Schemata zu fragen, geht das Vorhaben davon aus, dass hier ein Transformationsprozess zu beobachten ist, wie ihn Ralph H. Turner und Lewis M. Killian unter dem Stichwort „emergent norms“beschrieben haben. Das Forschungsprojekt geht der Frage nach, wie sich geteilte Vorstellungswelten und Normen im Geschehen formen, reproduzieren, wandeln oder auch (wieder) auflösen. Besonderes Augernmerk liegt darauf, wie die Kritik an den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und das Protestengagement in die Lebenswelt der Beteiligten eingebettet ist. Ziel ist es ein Verständnis für alle beteiligten Bevölkerungsgruppen und deren lebensweltlichen Orientierung zu entwickeln.

Das Geschehen, das dabei von Interesse ist, geht über die klassischen Protestrepertoires der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen hinaus, darunter Demonstrationen oder Kampagnen. Es besteht maßgeblich auch aus einer vielstimmigen und vielschichtigen Kommunikation via sozialer Medien, die sich nicht auf die Äußerung von Protest reduzieren lässt. Analytischer Ankerpunkt des Projektes ist deshalb eine digitale politische Ethnografie. „Digital“ meint dabei nicht, sich bei der Untersuchung auf Social-Media-Formate zu beschränken, sondern nach der Relevanz und Funktionsweise virtueller Kommunikationsmedien für das Bewegungsgeschehen zu fragen. Das Forschungsprojekt ist hier in erster Linie rekonstruierend angelegt, indem es ausgewählte virtuelle und physische Sites untersucht, an denen sich die Beteiligten begegnen. Dazu dient eine zentrale Leitfrage: Wie „arbeiten“ die Beteiligten mit- und gegeneinander an geteilten Vorstellungswelten und Normen? Diesem Zugang liegt dabei insbesondere die Überlegung zugrunde, dass die Performativität von inhaltlichen Beiträgen einen Schlüssel für die Untersuchung emergierender Vorstellungswelten darstellt.

Das Projekt ist ein Kooperationsvorhaben der Helmut-Schmidt-Universität, Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel, und des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS), Forschungsgruppe Makrogewalt, mit Einbindung des HIS-Archivs. Neben den inhaltlichen Erkenntnisinteressen dient das Vorhaben auch der Exploration von Fragen der Archivierung von in hohem Maße digitalisierten sozialen Bewegungen.

Fördereinrichtung:

Volkswagen Stiftung (im Rahmen der Förderlinie „Corona Crisis and Beyond“)

Förderzeitraum:

Juli 2021 bis Dezember 2022

Mitwirkende:

Leslie Gauditz (HSU – Projektbearbeitung)

Thomas Hoebel (HIS – Ko-Leitung)

Teresa Koloma Beck (HSU – Ko-Leitung)

Svenja Kunze (HIS Archiv)

Projektveröffentlichungen:

Gauditz, L. (2023). „Sind manche Gruppen schwerer zugänglich als andere? Erfahrungen und Reflektionen zu Coronaprotesten und Fluchtaktivismus“ Forschungsjournal Soziale Bewegungen, vol. 36, no. 1, 2023, pp. 150-161. https://doi.org/10.1515/fjsb-2023-0013

Gauditz, L. / Kunze, S. (2023): Research Data as Web Archives – Web Archives as Research Data. Blog der Digital Ethnography Initiative, 23.11.2023. https://digitalethnography.at/research-data-as-web-archives-web-archives-as-research-data/ Zuletzt gesichtet: 02.07.2024.

Gauditz, L. (2022): Vorstellungswelten der Anti-Corona-Protestszene. KVH Journal 11/2022. Kassenärztliche Vereinigung Hamburg. https://journal.kvhh.net/11-2022/vorstellungswelten-der-anti-corona-protestszene. Zuletzt gesichtet 26.10.2022.

Präsentationen und Vorträge:

Kunze, S.; Gauditz, L. 17.10.2022: Research data as web archives – web archives as research data: Challenges and opportunities at the intersection of social sciences and archiving. Panelpräsentation auf der WARCnet Closing Conference an der Universität Aarhus.

Gauditz, L. 16.09.2022: “Sind Gruppen wirklich schwer zugänglich, und falls nicht warum? Erfahrungen aus Coronaprotesten und Fluchtaktivismus”. ipb annual conference 2022,
Methods of social movement research: new developments and recurring questions. Berlin.

Gauditz, L. 10.09.2022: Vorstellungswelten der Anti-Corona-Protestszene. Fachvortrag beim Psychotherapeutentag 2022 der Psychotherapeutenkammer Hamburg.

HSU

Letzte Änderung: 12. Juli 2024