Historische Zeitbilder

Russlands Rote Revolution. Ein Oktober mit vielen Gesichtern
Eine (fiktive) Ausstellung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, sechs Werbefilme, phantasiereiche Begleittexte eines klassischen Proseminars sowie viele offene Fragen – ein Plädoyer für mehr künstlerische Freiheiten im universitären Geschichtsunterricht
Seminarleitung: PD Dr. Jörn Happel — Kiel, im Sommer 2019

Am Anfang war die Revolution. Oder doch Marx?
Zwei Lehrveranstaltungen widmeten sich im Sommersemester 2019 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel den Geschehnissen rund um die Russische Oktoberrevolution von 1917. Das Proseminar zur Einführung in die Geschichtswissenschaften nahm sich der textuellen und fotografischen Quellen an und analysierte die Ereignisse aus der Perspektive der sie erlebenden Menschen. Die Übung zur Außerschulischen Didaktik stand vor der Herausforderung, eine Ausstellung über die Revolution zu konzipieren – und für diese Werbung zu machen. So weit die Aufgaben. Die Ergebnisse werden hier vorgestellt.

Im Proseminararbeiteten die Studierenden begleitend zu den Seminarsitzungen an historischen Essays. Alles war erlaubt: das Verfassen eigener Tagebucheinträge fiktiver oder realer Personen zur Zeit der Revolution, wissenschaftliche Betrachtungen oder die Arbeit an einem Poetry-Slam. Wichtig war stets die Rückbindung an die Quelle. Das Vetorecht der Quellen wurde beschworen, hier mal freier, hier mal enger ausgelegt. Entstanden ist ein Potpourri an phantasiereichen Einblicken in das Russland der Revolution. Dabei blieb eine Frage bis zuletzt offen: Am Anfang war die Revolution. Oder doch Marx? Lesen Sie selbst…

Zwar sollte in der Übung eine Ausstellung konzipiert werden, doch im Mittelpunkt stand nicht die Ausstellung an sich, sondern wie man eine solche am besten bewerben könnte. Die Studierenden erarbeiteten ein Konzept, das diesem Zeitbild seinen Namen verlieh: „Russlands Rote Revolution. Ein Oktober mit vielen Gesichtern“. Waren diese sechs Gesichter endlich nach langen Diskussionen und vielfältiger Lektüre gefunden, wurde ein Werbemittel gesucht. Wie Lenin und Trotzki schrieben wir dem Film die höchste agitatorische Kraft zu. Lenin hatte einst formuliert: „Von allen Künsten ist für Russland meiner Meinung nach die wichtigste – das Kino.“ Wir drehten sodann Filmchen von maximal 1:50 Minute Länge – Teaser, die potentiell Interessierte in eine Ausstellung gelockt hätten. Die Spannbreite der Themen ist weit: die frühe Revolutionärin Vera Figner, der orthodoxe Patriarch Tichon, ein fiktiver Bauer auf der Suche nach seinem Platz im neuen Russland, die Revolutionärin par excellence Larissa Reissner, der Gegenrevolutionär Lavr Kornilov und zwei Quadrate auf ihrem Weg zur Erde (ein Animationsfilm nach El Lissitzky). Schauen Sie, staunen Sie selbst: Lavr Kornilov / Larissa Reissner / Vera Figner / ein Bauer / El Lissitzky / Patriarch Tichon.

Die Studierenden des Proseminars: Jonas Burmeister, Henri Giebeler, Felix Grage, Isabelle Heilmann, Merle zu Hoene, Kübra Koyun, Lennart Nagels, Anabel Pospiech, Broder Söhl, Paulina Hermine Stahr, Max Stolte, Roko Strize, Bennet Suttkus, Lena Tetzlaff, Neela Welge sowie Yella Susanne Nicklaus als studentische Tutorin.
Die Studierenden der Übung Jasmin Drogat, Ana Carolina Feijó, Jakob Goebel, Olesya Lemke, Fabian Schmuck und Leonard Lill als unser technisch-künstlerischer Berater.

Revolutionen! Petrograd 1917, Kiel 1918, Kronštadt 1921
Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte – schrieb Karl Marx im Jahre 1850. Wie sehr Revolutionen die geschichtliche Entwicklung umwarfen, wie sie in der Zeit interpretiert und späterhin umgedeutet wurden, diesen Fragen näherten wir uns im Hauptseminar an der Universität Konstanz im Sommersemester 2018. Im Mittelpunkt standen drei strukturell, kulturell, ökonomisch und national unterschiedliche Revolutionen in Petrograd, Kiel und Kronštadt. Doch als die Zentralmacht wankte, schlug in allen drei Untersuchungsorten die Stunde der Matrosen.

Was passierte auf den Straßen, in den Werften, auf den Schiffen, in den Parlamenten während der Tage des Umbruchs? Hautnah wollten wir an den Ereignissen dran sein. Auf Grundlage dichter und intensiver Quellenarbeit verfassten die Studierenden deshalb Zeitungsreportagen. Sie versetzten sich als Journalistinnen und Journalisten zurück nach Kiel, Petrograd und in die belagerte Festung Kronštadt, sie sprachen mit den Akteuren, berichteten ihren zeitgenössischen Lesern von den unglaublichen Ereignissen, vom Aufbegehren der Matrosen.

Wir haben mithilfe der Reportagen eine fiktive Geschichte der Revolutionen verfasst. Dabei nahmen wir verschiedene Blickwinkel ein, so wie auch die damaligen Zeitungen politisch unterschiedliche Sichtweisen vertraten: Von der national-konservativen bis zur kommunistischen Zeitung ist bei uns jede politische Denkrichtung vertreten. Dadurch sind wir ebenfalls Teil einer Mediengeschichte, die sich kritisch mit der Rolle und den Einflussmöglichkeiten der Zeitungen befasst. Lesen Sie selbst: So könnte es gewesen sein…

Konstanz, im August 2018, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Die Schönheit des Meeres. Die Erstbeschreibung des Aralsees 1848/49 und das Russländische Imperium
Universität Konstanz, WS 2017/18
Kapitän Butakov und der Dichter und Maler Ševčenko – zwei ungleiche Männer mit der gleichen Vision: Die Erstbesegelung und -beschreibung des 1848/49 noch fast unbekannten Aralsees, der im Russischen und Kasachischen aufgrund seiner gewaltigen Wasserfläche als Meer bezeichnet wird. Beiden erschloss sich vor Ort, vor allem jedoch in den Zeichnungen des Ukrainers, die Schönheit des Meeres, die heute nach dem Austrocknen nicht einmal mehr zu erahnen ist.

Ausgehend von Butakovs Reisetagebuch hatte unser Oberseminar im Wintersemester 2017/18 an der Universität Konstanz eine begleitende Reiselektüre verfasst. Als Schreibwerkstatt konzipiert, entstanden in langen Lese- und Redaktionssitzungen sorgfältig bearbeitete und ausgewählte Texte. Der Stil mag unterschiedlich sein. Die Begeisterung für das Thema erfasste uns jedoch alle. Die Textarbeit war äußerst intensiv, viel musste gelesen, viel verworfen, viel umgeschrieben werden. Doch nur so gelang eine Reise zurück in das Jahr 1848/49, in das russische Asien, an die Ufer des Meeres, auf das Deck des Schoners „Konstantin“, neben die Staffelei Ševčenkos… (pdf)

Konstanz, im Februar 2018, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Die Teilungen Polens als transnationales Medienereignis
„Noch ist Polen nicht verloren“, heisst es in der polnischen Nationalhymne von 1797. Doch zwei Jahre zuvor besiegelte die dritte Teilung Polens das Ende der staatlichen Eigenständigkeit jenes Reichs, das seit dem Mittelalter immer wieder die europäische Geschichte mitbestimmt hatte. Doch Polen war mehr als nur ein Staat – der Glaube an Polen und an die Wiedererlangung seiner Staatlichkeit ging auch nach 1795 und nach dem Wiener Kongress 1814/15 nicht verloren, wenngleich dieses Ziel erst nach dem Ersten Weltkrieg erreicht wurde.

Beobachtet von der „Weltpresse“ waren die Teilungen transnationale Medienereignisse. Im Proseminar haben wir zeitgenössische Quellen vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Wiener Kongresses 1814/15 analysiert. Stets schauten wir auf die internationale Berichterstattung in Zeitungen, Flugschriften oder auf Karikaturen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten in die Zeit zurückreisen und aus den Quellen heraus journalistische Beiträge verfassen. Investigativ gingen die Studentinnen und Studenten vor: Sie berichten auf den folgenden Seiten über einen Spaziergang mit Tadeusz Kościuszkodurch Solothurn, über die Nacht der ersten Teilung Polens aus der Sicht eines Juristen, über das Gemälde eines gescheiterten Königs, über die Bauern an der weissrussischen Grenze, über die Teilungen Polens als Sportereignis…

Im Zentrum aller Artikel stand die Rekonstruktion vergangener Lebenswelten. Erstellt wurden Zeitbilder, die auf Quellen fussend eine lebensweltliche Beschreibung und Analyse des von Aussen nach Polen getragenen Untergangs der alten Adelsrepublik ermöglichen.

Schauen Sie selbst: So könnte es gewesen sein – die Teilungen Polens als transnationales Medienereignis… (pdf)

Basel, im Dezember 2016, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Proseminars.

Diplomaten-Netzwerke im Moskau der 1920er/30er Jahre
Im Proseminar zu den Diplomaten-Netzwerken wurden wieder Zeitbilder von den Studentinnen und Studenten erstellt, die einen beredten Einblick geben in das Alltagsleben von Menschen in der russischen Hauptstadt während der Neuen Ökonomischen Politik und des beginnenden Stalinismus. Im Zentrum stehen die Lebenswelten von Diplomatinnen und Diplomaten. Schauen Sie selbst: So könnte es gewesen sein… (pdf).

Viel Spass beim Lesen wünschen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie der Dozent.

Die Rus‘. Osteuropa im 9. und 10. Jahrhundert
Wer waren die Rus‘? Wo und wie lebten sie im 9. und 10. Jahrhundert? Wer schrieb über sie? Mit wem hatten sie Kontakt? Was arbeiteten, assen und tranken sie? Und wie bestatteten sie ihre Toten?

Im Zentrum meines Proseminars „Die Rus`. Osteuropa im 9. und 10. Jahrhundert“ (Herbstsemester 2011) stand die Rekonstruktion vergangener Lebenswelten und das Erstellen von Zeitbildern. Hierbei orientierten wir uns an den Arbeiten von Carsten Goehrke (Russischer Alltag, 3. Bde., Zürich 2003-2005). Wir untersuchten ein Semester lang Quellen von und über die Rus‘, wodurch — auf historischen Arbeiten fussend — eine Beschreibung des Alltags in der Rus‘ sowie der Gefahren und Herausforderungen, denen die Menschen im osteuropäischen Mittelalter ausgesetzt waren, entstand. Kurz: So könnte es gewesen sein… (pdf)

HSU

Letzte Änderung: 2. Januar 2025