Der Mensch und das Meer von Romantik bis Anthropozän. Eine Geschichte des Ostseetourismus.

Ein Forschungsprojekt von Dr. Jan-Hinnerk Antons

Cafe Baltic

Der moderne Ostseetourismus verdankt seine Entstehung ab etwa 1800 einem grundlegenden Wandel im Mensch-Meer-Verhältnis. Durch naturwissenschaftliche, medizinische und romantische Diskurse wandelte sich das Meer von etwas Bedrohlichem zu einem Erholungsort für Körper und Seele. Die Küsten der Ostsee wurden zu einem Sehnsuchtsort.

Tourismus wird hier grundsätzlich als Ausdruck eines modernen Bedürfnisses nach Rollenvariation und neuen Körpererfahrungen verstanden, der den Individuen der funktional differenzierten Gesellschaften ein Gefühl der Ganzheit, der körperlich-geistigen Einheit ermöglicht.

Aus dieser Perspektive untersuche ich im Forschungsprojekt sowohl die Wandlungen des Mensch-Meer-Verhältnisses in ihrer Wirkung auf den Ostseetourismus als auch in der Gegenperspektive den Einfluss des Tourismus auf das Mensch-Meer-Verhältnis. In großen Linien verfolge ich dabei in einem ersten Teil die Etablierung der Ostseeküste als Erholungsraum und Sehnsuchtsort und die Weiterentwicklung des Tourismus samt seiner sozialen Ausweitung im 19. Jahrhundert. Der zweite Teil fokussiert neue Körper- und Naturbezüge des Tourismus der Hochmoderne wie bspw. Freikörperkultur, Versportlichung und Camping. Der dritte Teil analysiert schließlich neue Diskurse im Ostseetourismus des Anthropozän. Denn ab 1970 gefährdete das Bild der Ostsee als „schmutzigstes Meer der Welt“ die wichtigsten Grundlagen des Tourismus. Baden galt nun als potentielle Gesundheitsgefahr und das Bild der Kloake drohte den „Spiegel der Seele“ zu vergiften. Welche Antworten fanden die Tourist*innen, die Tourismuswirtschaft, Politik und Zivilgesellschaften auf diese Herausforderungen?

Um Spezifika, Brüche und Kontinuitäten sichtbar machen zu können, werden eine Perspektive der longue durée und ein großer geographischer Zuschnitt gewählt: Von der Entstehung des ersten Ostseebades, Heiligendamm 1794, bis zum Ende der Systemkonkurrenz in Europa in den frühen 1990ern; von Travemünde im Südosten bis Terijoki (Selenogorsk) bei St. Petersburg im Osten und Mariehamn auf den Aland-Inseln im Norden. Die Makro-Perspektive muss aufgrund eines nicht immer hinreichenden Forschungsstandes und prinzipieller Erwägungen notwendigerweise durch das Hineinzoomen in die Mikroperspektive unterbrochen werden. Denn eine Verknüpfung beider Ebenen ähnlich der globalen Mikrogeschichte verspricht eine übermäßige Fokussierung auf Strukturen zu umgehen und empirische Fundierung zu ermöglichen. Das Denken in nationalen Räumen, welches sich anhand des Themas allenfalls als eine komparative Analyse konzipieren ließe, soll hier bewusst gleichzeitig über- und unterschritten werden. Regionale und transnationale Zugriffe bieten einen plausibleren Rahmen, um dem Phänomen Ostseetourismus gerecht zu werden. Ob die Ostsee überhaupt als Geschichtsregion zu verstehen ist und wodurch diese Region gegebenenfalls charakterisiert wäre, ist in der Forschung allerdings umstritten. Gegenüber der Staatenwelt waren die Regionen als Räume wirtschaftlicher Verflechtung, primärer Identitätsbildung und anderer Strukturmerkmale stabiler, wenn auch mit durchaus variablen Modi politischer Gestaltungsmacht. Entwicklungen in Schleswig, in Holstein und Mecklenburg waren in vielerlei Hinsicht tatsächlich mehr mit Entwicklungen in Kurland oder auf den finnischen Aland-Inseln verknüpft als mit denen in Hessen. Insofern kann der hier verwendete Ansatz als eine auf transregionale Entwicklungen fokussierende Verflechtungsgeschichte des Ostseeraums verstanden werden.

Da eine Umweltgeschichte der Ostsee bisher nicht geschrieben ist, beschäftigt sich das Projekt auch stark mit dieser Perspektive. Dabei kommt sowohl der materiellen als auch der kulturellen Ebene der Umweltgeschichte Bedeutung zu. Weitere Anregungen kommen u.a. aus den Sensory Studies, der Körpergeschichte, der Medizingeschichte und der Kunstgeschichte.

HSU

Letzte Änderung: 27. November 2024