Workshop: Tourismus und Aussöhnung in Europa

Strand

 

Im 20. Jahrhundert standen sich Europäer*innen in zwei Weltkriegen in tödlicher Feindschaft gegenüber, die von der Idee eines Gegensatzes nationaler Gemeinschaften inspiriert war. Die Nachwirkungen dieser Feindschaft lassen sich nicht allein an der Zahl der Toten und Versehrten bemessen, auch die Obdachlosen, die Traumatisierten, diejenigen, die den Verlust geliebter Menschen hinnehmen mussten und jene, deren Lebensplanung abrupt umgestürzt wurde, hatten starke individuelle Motive, den Kriegsgegner*innen weiterhin feindlich gegenüberzustehen. Die kollektive Erinnerungs- und Identitätsbildung verallgemeinerte diese Feindbilder in nationalen Narrativen von großer Persistenz.

Andererseits gab es beispielsweise im deutsch-französischen Verhältnis auf individuellen Initiativen beruhende Aussöhnungsansätze, die sich untern anderem in zahlreichen Städtepartnerschaften niederschlugen. Und die Verschlechterung der Beziehungen zur Sowjetunion sorgte dafür, dass auch auf einer staatlichen Ebene nach neuen Bündnissen gesucht wurde. Angesicht des neuen gemeinsamen Feindes in Osteuropa betrieben die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und vieler westeuropäischer Staaten, die dem nationalsozialistischen Angriffskrieg zum Opfer gefallen waren, bald eine Aussöhnungspolitik, die sich in Verträgen und Versöhnungsgesten niederschlug. Gleichzeitig gab es aber auch Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland, sich mit den Staaten jenseits des „Eisernen Vorhanges“, die am schlimmsten unter der nationalsozialistischen Besatzungspolitik zu leiden gehabt hatten, wieder auszusöhnen. Doch Feindbilder im kollektiven Gedächtnis sind zäh und an direkten Begegnungen im Rahmen von Freundschaftsinitiativen nahm nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Bevölkerungen teil.

Wie konnte also Aussöhnung unterhalb der offiziellen Ebene von Staatsakten gelingen, wie kamen die Menschen ehemals verfeindeter Staaten in einen friedlichen, wohlwollenden Kontakt miteinander? Die wohl wichtigste Ebene bildet hierbei der internationale Tourismus, der ab den 1950er Jahren durch die Mobilitätsrevolution, steigenden Lebensstandard und die Kodifizierung von Ansprüchen auf Erholungsurlaub einen Durchbruch erlebte. Millionen von Menschen bereisten zunächst überwiegend mit dem Automobil die europäischen Nachbarländer und ab den 1970er Jahren per Flugzeug auch weiter entfernte Staaten.

Der westdeutsche Auslandtourismus richtete sich, so eine Hypothese, nicht zufällig zunächst verstärkt nach Österreich, dann nach Italien und schließlich auch ins franquistische Spanien. Alle drei waren nicht von der Wehrmacht überfallen worden, sondern zunächst faschistische Verbündete – im Gegensatz zu Frankreich, den Beneluxländern und Dänemark, wo deutsche Tourist*innen noch lange mit Ablehnung rechnen mussten. Das Auswärtige Amt sah sich genötigt, deutsche Urlauber*innen zu warnen, bei Frankreichbesuchen keine Erinnerungsfotos an ehemaligen Stationierungsorten zu schießen und sich mit Kriegserinnerungen nicht öffentlich zu äußern. Andersherum mieden dänische Tourist*innen zunächst ihr ehemals beliebtestes Auslandsziel und beherbergten auch im eigenen Land lieber norwegische und schwedische Feriengäste als deutsche.

In Osteuropa trafen Tourist*innen meist im Rahmen von Konzepten „verordneter Freundschaft“ auf Bürger*innen der „Bruderstaaten“. Der antifaschistische Grundkonsens der regierenden Kommunistischen Parteien sollte die realen Konfliktlinien des Zweiten Weltkrieges einebnen. Nicht nur die erst wenige Jahre zurückliegende Beteiligung von späteren Bürger*innen der DDR am rassistischen Vernichtungskrieg in ganz Osteuropa, auch die blutigen Konflikte zwischen Ukrainer*innen und Pol*innen, die Besetzung der unabhängigen Staaten Litauen, Lettland und Estland durch die Sowjetunion, Umsiedlungen und Grenzverschiebungen sollten dadurch verdeckt werden. Ließen sich ehemalige Feindbilder und individuelle Erinnerungen tatsächlich so einfach durch kollektive Identitätsentwürfe von oben überschreiben?

Vor diesem Hintergrund soll im Rahmen des Workshops nach einer alltagsgeschichtlichen Perspektive europäischer Aussöhnung gefragt werden. Inwiefern trugen durch Tourismus entstandene persönliche Kontakte zum Abbau von Feindbildern bei und inwiefern wurden touristische Kontakte vom Fortbestehenden eben dieser Feindbilder erschwert? Welchen Beitrag leistete der internationale Tourismus zur Aussöhnung und wo stand die frühere Kriegsgegnerschaft dem Tourismus im Wege? Willkommen sind Beiträge zu allen europäischen Ländern und Regionen, von qualitativen Fallstudien bis zu quantitativen Analysen der Tourismuskontakte, die diesen Fragenkomplex berühren. Über die klassischen Tourismusformen wie Pauschalreise, Individualreise, Camping etc. sind viele weitere Themenfelder denkbar:

– Schüleraustausch und Klassenfahrten
– Städtepartnerschaften
– Ausländische Fans bei internationalen Sportereignisse
– Internationaler Amateursport
– „Heimwehtourismus“ / heritage tourim
– Kreuzfahrten
– Pilgerorte
Battlefield tourism
– „Kleiner Grenzverkehr“
– Musikfestivals
– Tourismusabkommen
– Etc.

Der Workshop findet vom 01.09.2022 – 02.09.2022 in Lüneburg als Kooperation des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit dem Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nord-Ost Europa e.V. statt. Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.

Bei Rückfragen wenden Sie sich gerne an Jan-Hinnerk Antons ([email protected]).

HSU

Letzte Änderung: 28. Februar 2023