Die Ringvorlesung zum 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen – eine persönliche Bilanz

HSU

10. Februar 2025

Ringvorlesung Nahostkonflikt

Der Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war der brutalste und folgenreichste Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust, mit mindestens 1200 ermordeten Zivilist*innen und Sicherheitskräften. 240 Menschen wurden als Geiseln von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt, von denen bisher nur wenige befreit werden konnten. Etliche sind bereits tot oder befinden sich noch immer in der Gewalt ihrer Entführer. Dieser Gewaltexzess hat Israels Sicherheitskräfte vollkommen überrumpelt und das gesamte Land nachhaltig traumatisiert.

Israel reagierte mit einem militärischen Angriff auf den Gazastreifen, der mit aller Härte und ohne Rücksichtnahme auf die palästinensische Zivilbevölkerung durchgeführt wird. Mittlerweile geht man von über 46.000 getöteten Palästinenser*innen aus, die meisten davon Frauen und Kinder. Noch viel mehr Menschen haben Ihre Häuser und Wohnungen verloren und wurden zu Binnenflüchtlingen, die – völkerrechtlich problematisch – kaum Zugang zu Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung haben. Eine humanitäre Katastrophe, die auch das palästinensische Volk traumatisiert. Auf beiden Seiten kann man aufgrund der vorhergehenden Gewalterfahrungen von einer Retraumatisierung sprechen.

Die gewaltsame Eskalation des Nahostkonflikts hatte dramatische Auswirkungen nicht nur auf die Konfliktbeteiligten, sondern auf die gesamte Region und darüber hinaus. Insofern kann man den 7. Oktober 2023 als historische Zäsur bezeichnen; es gibt einen radikalen Schnitt zwischen dem vorher und dem nachher. Dessen ungeachtet gibt es aber auch zahlreiche Kontinuitäten und Pfadabhängigkeiten in diesem schon viele Jahrzehnte währenden Konflikt. Eine historische Zäsur ist keine „Stunde Null“. Und so gilt auch für diesen Konflikt, was für alle Konflikte gilt, wenn man sie verstehen und produktiv bearbeiten möchte: Context maters. Um diesen Kontext ging es mir bei der Organisation der Ringvorlesung im HT 2024.

In acht interdisziplinären Vorträgen haben namhafte Kolleginnen und Kollegen das Konfliktgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und sowohl historisch als auch politikwissenschaftlich, religionswissenschaftlich und völkerrechtlich eingeordnet. Damit haben sie dem polarisierten Diskurs, der die öffentliche Debatte über den Nahostkonflikt prägt, solide Forschungsergebnisse und damit eine sachliche Basis entgegengestellt. Denn allzu oft stößt viel Meinung auf wenig Wissen. Wo, wenn nicht an der Universität, kann man diesem Missverhältnis begegnen? So bedrückend die Bilanz der meisten Vorträge war, so erfreulich waren für mich die Diskussionen. Die Studierenden der HSU zeigten sich gut informiert über die Komplexität des Konflikts. Ihre Fragen und Kommentare waren geprägt von Respekt gegenüber anderen Meinungen und von Empathie für das Leid beider Konfliktparteien.

Seit dem 19.01.2025 herrscht in Gaza und Israel eine auf sechs Wochen angelegte Waffenruhe, die den Austausch von israelischen Geiseln gegen palästinensische Gefangene vorsieht, sowie die Zufuhr dringend benötigter Hilfsgüter für die hungernde Bevölkerung im Gazastreifen. Dies ist der erste Hoffnungsschimmer seit Monaten, der allerdings von Spoilern auf beiden Seiten massiv bedroht wird. Möge der Waffenstillstand ein erster Schritt aus der Gewalt sein, auf dem Weg zu einer nachhaltigen Befriedung des Konflikts. Dabei wird internationale Unterstützung, aber auch internationaler Druck auf die Konfliktparteien unabdingbar sein. Auf die USA kann man sich dabei nicht verlassen, umso wichtiger wird das Engagement der EU und damit auch Deutschlands.

Prof. Dr. Annette Jünemann (HSU/UniBw Hamburg)

Ein Ausblick von Dr. Jan Busse (Universität der Bundeswehr München)

„Der Nahostkonflikt im Kontext regionaler Eskalationsdynamiken: Ursprünge, Streitfragen und Regelungsperspektiven“

Durch den Terrorangriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen vom 7. Oktober 2023 kehrte der Nahostkonflikt zurück ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit. Israel reagierte auf den Terroranschlag mit einem Krieg im Gazastreifen, der nach rund 15 Monaten im Januar 2025 durch eine mit einem Geiseldeal verbundene Waffenruhe unterbrochen wurde. Unklar bleibt, ob diese Waffenruhe in einen dauerhaften Waffenstillstand oder gar eine langfristige Konfliktregelungsperspektive überführt werden kann. Während die Biden-Administration monatelang vergeblich versucht hatte, einen Geiseldeal zustande zu bringen, war es letztlich die unverhohlene Drohung von Donald Trump, dass die „Hölle ausbrechen werde“, sollte es bis zu seinem Amtsantritt nicht zu einer Einigung kommen, die zur Realisierung des Abkommens führte. Damit konnten erstmals seit November 2023 israelische Geiseln aus der Gewalt der Hamas freigelassen werden und dringend benötigte humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangen.

Der brutale Terroranschlag des 7. Oktobers 2023 versetzte die israelische Gesellschaft in einen Schockzustand, erschütterte den Nahen Osten und zeitigte erhebliche Auswirkungen im Rest der Welt. Um die komplexen Zusammenhänge dieser Ereignisse zu verstehen, ist es erforderlich, sich analytisch vertieft mit den zugrundeliegenden Konfliktdynamiken auseinanderzusetzen. Zunächst gilt es zu betonen, dass vom Nahostkonflikt erst im Angesicht der im Laufe des 19. Jahrhunderts stattfindenden Globalisierung der bis heute wirkmächtigen Idee des Nationalismus die Rede sein kann. Denn letztlich handelt es sich beim Nahostkonflikt vorrangig um einen ethno-nationalistischen Territorialkonflikt, dessen historischer Ursprung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verortet werden kann. Es streiten also seitdem zwei nationale Kollektive mit dem Ziel der (bereits realisierten oder weiter angestrebten) Errichtung eines eigenen Staates, und sie erheben dabei – zumindest in Form von Maximalforderungen – Anspruch auf dasselbe Territorium. Demgegenüber handelt es sich keineswegs um einen exklusiv religiösen Konflikt, wenngleich religiös-konnotierte Extrempositionen in den letzten 15 Jahren sowohl in der israelischen Gesellschaft und Politik als auch auf palästinensischer Seite erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Religion wird allerdings primär von Vertretern auf beiden Seiten als mobilisierende Ideologie instrumentalisiert und steht nicht im Zentrum des Konflikts selbst. Regelungsvorschläge für den Nahostkonflikt sind beinahe so alt wie der Konflikt selbst. So existierten bereits während der britischen Mandatszeit (1920-1948) konkrete Pläne für eine Zweistaatenregelung. Und seit seiner Entstehung steht der Nahostkonflikt unter internationaler Beobachtung, sowohl durch die dominanten Großmächte ihrer Zeit (Großbritannien, USA) als auch durch internationale Organisationen, sei es der Völkerbund, die Vereinten Nationen, die Liga der arabischen Staaten oder die Europäische Union.

Ein wesentlicher Bestandteil des Konflikts sind konkurrierende antagonistische Narrative, die jeweils historisch verankert und gesellschaftlich etabliert sind. Dabei geht es im Kern immer um die Frage, weshalb die jeweilige Seite der Ansicht ist, rechtmäßige Ansprüche zu vertreten und weshalb die Position der Gegenseite als illegitim zu erachten sei. Diese Narrative schlagen sich auch in der Deutung der zentralen Streitfragen nieder, also insbesondere der Status von Jerusalem, Grenzverlauf und Gebietsverteilung, die Frage palästinensischer Flüchtlinge sowie die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Substanzielle Versuche, diese Streitfragen in Verhandlungen zu regeln, erfolgten erstmals im Oslo-Friedensprozess ab Anfang der 1990er Jahre. Im Zuge dessen erhielt die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gazastreifens begrenzte Möglichkeiten der Selbstverwaltung – in Form der sogenannten Palästinensischen Autonomiebehörde –, während die erwähnten zentralen Streitfragen in einer Übergangsphase geklärt werden sollten. Gegner einer verhandelten Konfliktregelung sowie mangelnder politischer Wille zentraler politischer Akteure auf beiden Seiten trugen jedoch sukzessive zu einer Erosion des Oslo-Arrangements bei, sodass der Friedensprozess bereits vor dem Anschlag des 7.10.2023 als gescheitert galt. Vielmehr war der Nahostkonflikt bereits zu diesem Zeitpunkt auf einen existenziellen Machtkonflikt um das gesamte historische Mandatsgebiet zurückgefallen.

Der Terrorangriff des 7. Oktobers war eine erhebliche Zäsur für die israelische Gesellschaft. Der durch den Angriff verursachte Schock ging dort mit einem Vertrauensverlust in die politische Führung und die Sicherheitsinstitutionen einher. Die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen erlebte eine beispiellose Gewalt, während es parallel dazu zu einer ungekannten regionalen Eskalation kam, in der unterschiedliche Konfliktarenen miteinander verschmolzen. Der israelisch-palästinensische Konflikt sollte zwar nicht zum Schlüsselkonflikt des Nahen Ostens stilisiert werden. Die Entwicklungen seit dem 7.10.2023 haben aber verdeutlicht, in welchem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis regionale Entwicklungen zueinanderstehen.

Dass der jüngste Geiseldeal maßgeblich auf Druck des US-Präsidenten zustande gekommen ist, lässt den Schluss zu, dass die Konfliktparteien durch externe Akteure dabei unterstützt werden müssen, um etablierte Eskalationsdynamiken zu überwinden und Kosten-Nutzen-Kalküle dahingehend neu zu justieren, dass eine verhandelte Konfliktregelung im Fokus steht. Die 2024 durch den damaligen EU-Außenbeauftragten Josep Borrell initiierte „Global Alliance for the Implementation of the Two-State-Solution“ könnte hier wegweisend sein.

Letzten Endes kann nur durch eine realistische Verhandlungsperspektive extremistischen Positionen auf beiden Seiten effektiv der Zulauf entzogen werden, mit dem Ziel, dass Israelis und Palästinenser dauerhaft in Frieden und Sicherheit leben können.